Also, Stoiker, wenn Du vom Typ her distinguiert bist, sehr gute Manieren hast, elegant gekleidet bist, all die Dinge kannst (und vor allem von Herzen gerne machst), die zum Hofmachen nach alter Art dazugehören (Tanzen, Schreiben, Blumen etc.), dann passt das Siezen sehr gut in das Gesamtbild.
Ich nehme an, dass Du einfach etwas langsamer vorgehen möchtest (und es idealerweise verstehst, dabei einen Spannungsbogen aufzubauen), gerade weil Du vom Wesen her zu tiefen Gefühlen und großer Nähe fähig bist. Bei mir ist es auch so und das hat nichts mit einer Bindungsstörung oder so zu tun. Ich bin sehr sensibel, ich schaue den Menschen tief in die Seele und habe auch eine gute Wahrnehmung meiner Seele. Vom Typ her bin ich eine ganz Feine und es widerstrebt mir, wenn ein Mann oder ein Mitmensch im Allgemeinen plump in meinen Bereich vordringen möchte. Deshalb schätze ich ein langsames Kennenlernen über längere Zeit hinweg mit vielen Gesprächen. Ein Siezen im Hamburger Stil könnte da hervorragend passen.
Wenn ich mich hier so umschaue und lese, dann bemerke ich oft, dass viel zu schnell Nähe erzwungen wird, die überhaupt noch nicht tragfähig ist. Somit handelt es sich um eine Pseudo-Nähe, die aus der Unsicherheit heraus entstanden ist, ob der Kandidat oder die Kandidatin auch noch da sein würde, wenn man anfangs auf seine natürlichen Grenzen achtete. Ein "Du" hat also überhaupt nichts mit wahrer Nähe zu tun, sondern verschleiert sogar fehlende echte Nähe.
Es wird ja oft auf den angelsächsischen Raum verwiesen, wo es nur das "du" (you) gäbe. Als Anglistin möchte ich hier klarstellen, dass es im angelsächsischen Sprachraum gerade anders herum ist, nämlich dass es nur das "Sie" (you) gibt. Das ist leider nur nicht bekannt. Das eigentliche "du" entsprach dem "thou" - Linguisten erkennen die sprachliche Verwandtschaft zum "du", der altenglische Buchstabe "thorn", den es heute übrigens auch noch im Isländischen gibt, findet seine deutsche Entsprechung im "d".
Jedenfalls wurde das informelle Anredepronomen "thou" (du) im Laufe der Zeit durch das "you" ersetzt, welches die formelle Anrede für den Höhergestellten war und immer noch ist. Das wissen nur die meisten Leute nicht und sagen deshalb, im Englischen gäbe es nur das "du".
Hier ein Beispiel aus "Othello", als Senator Brabantio zum intriganten (niedriger gestellten) Iago sagt: "Thou art a villain!" (= Du bist ein Schurke.) Der so Gescholtene sagt hernach zu Brabantio: "You are a senator." (= Und Ihr seid ein Senator. bzw. Und Sie sind ein Senator.)
Das ist die hintersinnigste Beleidigung in Shakespeare's Werk: In voller Ehrerbietung und ohne die Regeln der Höflichkeit zu verletzen (wegen des "You", mit dem Iago den Senator Brabantio anspricht), wird eine Assoziation zwischen Schurke und Senator hergestellt.
Mit diesem Beispiel darf nun jeder glänzen, wenn mal wieder einer sagt, dass es im Englischen nur das "Du" gäbe.