Nein, die These der Titelfrage ist falsch. Schon deswegen, weil ein pauschaler Zusammenhang vermutet wird, der so einfach nicht zutreffen kann. Manchmal wird es so sein, manchmal wird das Gegenteil zutreffen.
Um aber Überzeugungsarbeit zu leisten, möchte ich folgendes Argument zur Diskussion stellen: Gerade jene, die persönliche Erfahrungen haben, neigen oft dazu, ihren Einzelfall unzulässig zu extrapolieren und sind sich dann "bombensicher", dass sie recht haben, weil es in ihrem persönlichen Fall ja tatsächlich so war.
Ein Beispiel sind z.B. diese dusseligen Fragen a la "Sind alle Männer X, weil mein letzter war so", "Wollen alle Frauen Y?". Daran merkt man doch sofort, dass EINE persönliche Erfahrung eben nicht ausschlaggebend ist und eben nicht wertvoll im Sinne des Erkennens des "großen Ganzen" ist.
Ein weiteres Beispiel sind z.B. statistische Ergebnisse, die eindeutig korrekt sind (z.B. überwiegende Infektionswege von HIV oder Scheidungsquoten von Zweitehen), weil sie einfach nichts mit Meinung, sondern mit erfassbaren Fakten zu tun haben. Da argumentiert dann jemand mit der Infektion einer Bekannten oder mit der eigenen tollen Zweitehe. Das ist alles unstrittig und "beide haben recht" in einem gewissen Sinne, nur wird einfach nicht erkannt, dass die überwältigende Mehrheit der Fälle eben nicht diesem persönlichen Muster entspricht.
Ein drittes Beispiel, das wir auch hier im Forum oft erleben, sind zum Beispiel "Mütter". Wer ein Kind hat, weiß pauschal bescheid, wie man gut erzieht (wo kommen all die schlecht erzogenen Kinder her?) und so weiter, und unterstellt auch noch allen Kinderlosen, dass sie das per se nicht wissen können. Das ist natürlich falsch, denn vieles hat mit gesundem Menschenverstand zu tun und fast alle haben ab einem gewissen Alter ja auch Patenkinder, Neffen und Nichten oder aufgrund beruflicher Qualifikation Erfahrung damit.
Zurück zu den konkreten Punkten der Titelfrage: Was alternative Lebensmodelle angeht, so darf man dazu doch eine eigene Meinung haben. Ich muss keine Ehe-zu-Dritt führen, um zu wissen, dass das nichts für mich ist. Ich muss mich nicht auspeitschen lassen, um zu erkennen, dass ich daraus keinen Lustgewinn ziehe. Und so weiter. Ich finde den Ausdruck "festgefahren" der Titelfrage daher unfair und vorverurteilend.
Es ist leider so, dass "persönlich Erlebtes" gerade von Laien immer viel höher eingestuft wird als wirkliche Ahnung vom Fachgebiet. So erklären sich ja auch die Millionen Esoterikgläubiger, weil es "bei meiner Freundin Anna funktioniert hat". Was sind da schon glaubhafte Studien kundiger Wissenschaftler gegen? Pah, nichts wert. Festgefahren. Wir dagegen gucken über den Tellerrand. War nicht die Warze von Bettina auf dem Friedhof weggegangen? Soll nicht klappen? Pah, blöde Wissenschaftler.
Nein, für mich ist die Überhöhung individueller Erlebnisse und das fälschliche Extrapolieren auf "die Welt" einer der größten Fehler, den man bei Diskussionen begehen kann. Hinterfragen, lernen, verstehen. Erkenntnis und Einsicht, das sind die Werte, die uns weiterbringen. Das Einsehen, dass es in 90% der Fälle anders ausgehen kann, obwohl es die 10% Fälle gibt, die man selbst erlebt hat, erfordert wirklich Denkvermögen. Schnell wird so was als 50-50 dargestellt, weil "ja beides passieren kann". Klar, kann es. Aber mit unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten eben.
Nichtsdestotrotz ist persönliche Erfahrung natürlich sehr wertvoll und auf manchen Gebieten auch gar nicht zu ersetzen. Je mehr Unterschiedliches man erlebt hat, je mehr Kontakte man zu Neuem hat, desto offener ist der Geist und die Wahrnehmung. Man muss bloß persönliche Erfahrungen eben auch als das erkennen, was sie sind: rein persönliche Erfahrungen und nicht die goldene Regel der Welt. Dann ist Erfahrung wertvoll.